Gehen dem Land die Ärzte aus?
Versorgung Jeder zweite Hausarzt in Baden-Württemberg geht in den kommenden Jahren in Rente. Einen Nachfolger zu finden ist schwierig – besonders in ländlichen Regionen. Von Anne Laaß und Bianca Frieß
Rudolf Meeßen begleitet viele seiner Patienten seit Jahrzehnten. Der Arzt hört ab, er verschreibt Tabletten und Hustensaft. Gleichzeitig ist er Gesprächspartner und Berater. Er kennt die sozialen Strukturen seiner Patienten, das hilft bei der Behandlung. „Wenn ich weiß, dass es in einer Ehe ständig kriselt, kann ich auch Schlafstörungen besser einordnen“, sagt er. Der 65-Jährige ist Hausarzt in seiner Praxis in Schelklingen im Alb-Donau-Kreis – und er könnte sich keinen anderen Beruf vorstellen. „Die Nähe zum Patienten, die tatsächliche therapeutische Versorgung: Das füllt mich aus“, erzählt Meeßen. Er wollte aufs Land, in einen überschaubaren Bereich mit Stammkunden. Da kam Schelklingen mit seinen rund 7000 Einwohnern gerade recht. 1984 ist er hier als selbstständiger Hausarzt in eine Praxis eingetreten.
Massives Stadt-Land-Gefälle
Damit ist er einer von rund 7100 Hausärzten, die nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) im Land tätig sind. 2007 waren es etwa 70 Ärzte mehr. Trotz des moderaten Rückgangs warnt die KVBW vor einem „alarmierenden Nachwuchsmangel“. Denn von den praktizierenden Hausärzten ist etwa die Hälfte älter als 55 Jahre. In den kommenden fünf bis zehn Jahren muss mehr als die Hälfte ersetzt werden. Besonders schwierig ist die Situation auf dem Land: „Es gibt ein massives Stadt-Land-Gefälle“, sagt Dr. Alexis von Komorowski vom Landkreistag Baden-Württemberg. Gerade Jungmediziner ziehe es in die Ballungsgebiete.
Lieber im Team
Die Gründe dafür sind vielfältig, wie der stellvertretende Hauptgeschäftsführer erklärt: Zum einen wollen die angehenden Ärzte lieber im Team arbeiten, außerdem ist die Verdienstperspektive in den Städten besser. Auf dem Land bleiben alte und kranke Menschen zurück, das erhöht den ärztlichen Aufwand.
Auch Hausarzt Meeßen wird in absehbarer Zeit in Rente gehen. Er erlebt seit mehr als 30 Jahren mit, wie sich die medizinische Landschaft verändert. „Früher haben die Hausärzte viel mehr Aufgaben übernommen, die jetzt der Facharzt macht“, erinnert er sich. Dazu zählen zum Beispiel gynäkologische Untersuchungen, Röntgen und Laborarbeiten. Dafür nimmt heute die Bürokratie mehr Arbeitszeit ein.
Unter angehenden Ärzten ist die Allgemeinmedizin wenig angesehen, die Ausbildungszahlen sind niedrig. Pro Jahr schließen in Baden-Württemberg etwa 150 Fachärzte für Allgemeinmedizin ihre Weiterbildung ab. Das reiche nicht aus, um die ausgeschriebenen Hausarztsitze nachbesetzen zu können, heißt es im Versorgungsbericht der KVBW. Meeßen hatte Glück bei der Suche nach einem Partner und späteren Nachfolger: 2014 gründete er eine Berufsausübungs gemeinschaft mit Doktor Robin Obermiller. Die beiden führen die Praxis zusammen, mit gemeinsamer Abrechnung und Patientenkartei (siehe Infokasten). Wie sie entscheiden sich immer weniger Ärzte dafür, alleine eine Praxis zu führen. Kai Sonntag vom KVBW geht davon aus, dass es bis in einigen Jahren nur noch höchstens zehn Prozent Einzelpraxen gibt.
Der Reiz der Kleinstadt
Die Hausärzte Meeßen und Obermiller haben sich bewusst für eine Praxis im ländlichen Alb-Donau-Kreis entschieden. Dort gibt es ein anderes Publikum als in der Stadt, meint Meeßen: Zu ihm kommen weniger Privatpatienten und weniger Laufkundschaft. Seinen Kollegen hat es aus pragmatischen Gründen nach Schelklingen gezogen. „Ich gehe dahin, wo ich gebraucht werde“, sagt der 39-Jährige: „Und in der Stadt gibt es schon viele Ärzte.“
Im Alb-Donau-Kreis kamen Anfang des Jahres 1451 Einwohner auf einen Hausarzt. Damit liegt der Landkreis leicht unter dem Landesdurchschnitt von 1518. „Es gibt mittlerweile auch Gebiete, wo die hausärztliche Versorgung bedarfsplanerisch nahe an der Grenze zur Unterversorgung ist“, warnt die KVBW. Dazu gehört zum Beispiel Horb am Neckar, dort kommen nur zwölf Hausärzte auf etwa 25 000 Einwohner.
Viele Ärzte spezialisieren sich
Ein Grund für die Knappheit ist, dass sich viele junge Ärzte spezialisieren. Auch Robin Obermiller ging diesen Weg, machte eine Facharztausbildung zum Internisten sowie im Bereich der Hämatologie und Onkologie. Seine Berufslaufbahn startete er im Ulmer Uniklinikum und wechselte später nach Biberach. Sein Entschluss Hausarzt zu werden, ergab sich erst vor ein paar Jahren, als er bei der Arbeit in einer Praxis einen größeren Einblick in die hausärztliche Versorgung bekam. Obermiller war klar, dass er nicht dauerhaft in einem Krankenhaus angestellt sein wollte. Viel eher strebte er eine selbstständige Tätigkeit an: in einer Landpraxis. Für Obermiller war es die „absolut richtige Entscheidung Hausarzt zu werden“, zumal ihn die Patienten schnell akzeptierten.
Mit seiner Berufsentscheidung geht Obermiller gegen den Trend – der entwickelt sich nämlich weg von der Selbstständigkeit und hin zum Angestelltenverhältnis. Dazu trägt auch bei, dass mehr Frauen in die Medizin einsteigen: 60 Prozent der Praxis-Übernehmer sind mittlerweile Frauen, berichtet die KVBW. Meeßen sieht das als Vorteil: „Es gibt Bereiche, wo Frauen ein anderes Ohr haben, zum Beispiel bei psychiatrischen Krankheiten oder häuslicher Gewalt“. Das hat aber Konsequenzen für Arbeitszeitmodelle. Denn neben der Arbeit möchten viele Frauen Zeit für die Familie haben. Sie neigen darum weniger zu Selbstständigkeit, wie der Versorgungsbericht der KVBW zeigt: 72 Prozent der Allgemeinmedizinerinnen arbeiten als Angestellte.
Hoffnung für das System
Gleichzeitig steigt aber die Belastung der Ärzte, die in Kliniken angestellt sind. Im Vergleich zu früheren Jahren verbringen Patienten nur ein Drittel der Zeit im Krankenhausbett, der ständige Wechsel sorgt für mehr Verwaltungsaufwand. Meeßen hofft, dass diese Situation den Hausärzten in die Hände spielt, vielleicht wollen sich dann wieder mehr Ärzte mit einer eigenen Praxis niederlassen.
Die Möglichkeiten, sich als Arzt niederzulassen
Einzelpraxis Als Einzelunternehmer ist der Arzt wirtschaftlich und organisatorisch komplett selbstständig.
Praxisgemeinschaft Eigenständige Praxen mit getrennter Abrechnung und Patientenkartei kooperieren miteinander.
Berufsausübungsgemeinschaft Mehrere Gesellschafter führen ein gemeinsames Unternehmen mit gemeinsamer Abrechnung und Patientenkartei. Die Partner arbeiten aber weiterhin medizinisch unabhängig.
MVZ Ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) ist eine ärztlich geleitete Einrichtung, in der Freiberufler oder Angestellte arbeiten.
Haller Tagblatt / Hohenloher Tagblatt / Rundschau Gaildorf/ 10.12.2016