Wenn der Aufnahmestopp Alltag ist
Nach zwei Stunden, erinnert sie sich, hat sie ins Telefon geweint. Sie wollte doch nur jemanden, der ihr die Schmerzen nehmen konnte. Sie war kurz vorher nach Crailsheim gezogen, frisch verheiratet, guter Dinge.
Dass die Hausarztsuche erfolglos war, hatte ihr zunächst noch keine Sorgen bereitet. Dann aber ist es ihr „ins Kreuz gefahren“, wie sie erzählt. Nichts, was sie nicht kennt, nichts, was nicht zu heilen wäre – wenn sich denn jemand findet, der weiß, was zu tun ist. Die ihr vertraute Arztpraxis im Großraum Stuttgart war aber weit, und da hat sie also Crailsheim abgegrast. Keine einzige Praxis, die sie aufnehmen konnte. Als sie dann schließlich entnervt in Tränen ausgebrochen ist, hat ihr eine Arzthelferin empfohlen, sich ans Krankenhaus zu wenden.
Klinikum als Notlösung
Das hat sie schließlich gemacht. Mit dem Rettungswagen wurde sie ins Klinikum Crailsheim gebracht, wo sie sich, erzählt sie, „tausendmal entschuldigt“ hat. Es war ihr peinlich, sie fühlte sich ja nicht als Notfall. Im Klinikum aber habe man sie beruhigt: Das müsse sie nicht belasten, in Crailsheim sei das an der Tagesordnung; mittlerweile wiesen sich Patienten mit einer heftigen Erkältung ein, einfach weil sonst keine ärztliche Hilfe zu finden sei.
Die Neu-Crailsheimerin hat noch immer keinen Hausarzt. Im Medizinischen Versorgungszentrum Crailsheim wurde ihr einmal ein Rezept ausgestellt. Als dauerhafte Lösung sieht sie das nicht.
Alternative Ärztehaus?
Wer sich die Mühe macht, in verschiedenen Praxen anzurufen, hört noch immer sehr wahrscheinlich ein: „Ich kann Sie gern auf die Warteliste nehmen.“ „Aber ich sag Ihnen gleich, das kann Monate dauern“, ist zuweilen der entmutigende Zusatz. Nach einem Aufnahmestopp nimmt aber die ärztliche Praxisgemeinschaft Altenmünster unter der Voraussetzung einer Beteiligung am Hausarztprogramm wieder Patienten auf.
Auf der Suche
Auch im Medizinischen Versorgungszentrum Crailsheim berichten zwei Mediziner von zum Teil völlig aufgelösten Anrufern, die bei akuter Erkrankung oder Verletzung nicht wissen, wohin sie sich wenden können. Der klinische Direktor des Klinikums, Thomas Grumann, weiß um den Ärztemangel, um die Sorge, dass immer mehr niedergelassene Ärzte in den Ruhestand gehen und ganz besonders im ländlichen Raum keinen Nachfolger finden. Deshalb habe das Klinikum zwei Kassenarztsitze für ein Versorgungszentrum aufgekauft. Die zu besetzen, sei freilich schwer. Dr. Adriana Popa wird demnächst verabschiedet; bis ein Nachfolger gefunden ist, versucht Dr. Alexandru Berea aufzufangen, was an Hilferufen eingeht.
Die Hoffnung war und ist, dass sich mehr Medizinerinnen und Mediziner für den Beruf des Hausarztes entscheiden, wenn sie geregelte Arbeitszeiten haben, ein gesichertes Wochenende und vor allem die Möglichkeit, in Teilzeitarbeit Beruf und Familie zu verbinden. Dass sie dann zudem nicht das Risiko der Freiberuflichen tragen müssen, sondern in einem Ärztehaus angestellt sind, ist ebenfalls ein Argument derer, die sagen, Einzelpraxen hätten keine Zukunft.
Dass es einen ausgewiesenen Ärztemangel gibt in der Stadt, ist seit Langem bekannt. Die Zahl von 17 Allgemeinärzten sagt nichts darüber aus, wer kurz vor dem Ruhestand steht oder in Teilzeit arbeitet. Zuweilen nimmt die Hausarztsuche groteske Formen an, zumindest wenn man Firmen Glauben schenken will, die darauf angewiesen sind, Fachkräfte zu gewinnen. Als Standortfaktor ist die ärztliche Versorgung längst Top-Thema: Ist sie nicht gewährleistet, wird es schwierig. Ist es so schwer, Ärztinnen und Ärzte nach Crailsheim zu locken, oder hat die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg für den Altkreis zu wenig Planstellen? Entscheidend ist, so deren Sprecher Kai Sonntag, dass die von der Bundesregierung vorgegebene Bedarfsplanung lediglich bestimme, wie viel Geld für die medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt wird. Auf Nachfrage wird er deutlich: „Die Bedarfsplanung muss dem Bedarf der Bevölkerung nicht gerecht werden“ (Infokasten rechts).
Weite Wege gelten als zumutbar
Grundsätzlich spricht Sonntag aber auch von „Nachwuchsschwierigkeiten im hausärztlichen und fachärztlichen Bereich“; es gebe eine deutliche Tendenz weg von der Einarztpraxis, hin zu Teilzeitmedizinern im Angestelltenverhältnis. Auf Dauer müssten sich Patienten darauf einstellen, weitere Wege zurücklegen zu müssen. „Den Hausarzt um die Ecke wird es nicht immer geben.“ Und von Patienten, ganz gleich wie krank oder wie mobil sie sind, werde erwartet, dass sie sich „innerhalb des Mittelbereichs“ bewegen. Das deckt Sonntag zufolge im Fall Crailsheim neben der Stadt selbst den gesamten Altkreis ab – „Blaufelden, Fichtenau, Frankenhardt, Gerabronn, Kirchberg, Kreßberg, Langenburg, Rot am See, Satteldorf, Schrozberg, Stimpfach und Wallhausen.
Können sich Ärzte niederlassen, wo sie gebraucht werden?
So einfach ist das nicht, sagt Kai Sonntag, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung. Seit 1993 gebe es eine Kontingentierung, einen von der Bundesregierung unter Gesundheitsminister Horst Seehofer festgelegten und bundesweit einheitlichen Arzt-Patienten-Schlüssel für sogenannte „Mittelbereiche“, in diesem Fall also für den Altkreis Crailsheim. Diesem Schlüssel zufolge gilt, so Sonntag, dass „ein Arzt für 1671 Einwohner im Alter von null bis tot“ als ausreichend eingestuft ist, als Versorgungsgrad von 100 Prozent. „Das ist nicht unsere Erfindung, sondern Bundesgesetz“, so Sonntag, sprich ein Versuch, den Anstieg der Kosten im Gesundheitswesen zu begrenzen – mehr Ärzte bedeuteten mehr Behandlungen und mehr Kosten. In der Stadt Crailsheim gebe es mit 17 Allgemeinärzten, im Mittelbereich mit insgesamt entsprechenden 54,25 Stellen sogar zu viele Ärzte. Im Juli habe es einen Versorgungsgrad von 108,5 Prozent gegeben. Demnach könne sich lediglich noch ein einziger zusätzlicher Arzt oder eine Ärztin ansiedeln, dann gelte der Altkreis nach dieser Systematik mit mehr als 110 Prozent als überversorgt und werde für Neuzulassungen gesperrt. Dass sich diese rein rechnerische Einschätzung der optimalen Versorgung nicht mit dem Empfinden der Bevölkerung deckt, ist ein ganz anderes Thema.