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Die Situation spitzt sich zu

Ärztemangel Dr. Lukas Vogler in Satteldorf gibt seine Praxis auf und arbeitet in einem Krankenhaus weiter.
Die medizinische Betreuung von Kindern im Crailsheimer Raum ist seit Langem ein Problem. Von Birgit Trinkle

Tausend Scheine, also tausend kleine Patienten im Quartal, das ist der immaterielle Wert einer frei werdenden Kinderarztpraxis in der Gemeinde Satteldorf – mehr noch als Ausstattung und Einrichtung ist diese Zahl für einen potenziellen Nachfolger, eine Nachfolgerin interessant. Tausend kleine Patienten im Quartal, so der Umkehrschluss, müssen in der ohnehin sehr angespannten Lage im Altkreis Crailsheim ab Januar in einer der anderen Praxen untergebracht werden.


Auf zu neuen Ufern


Ein Schlüsselerlebnis hatte der Bub Lukas Vogler, als er krank im Bett lag, Besuch vom Hausarzt erhielt und dessen – aus der Sicht eines Kindes – hünenhafte, in sich ruhende Gestalt als unglaublich beruhigend empfand. Vermutlich war es diese Erfahrung, die ihn später Medizin studieren ließ. Seine Arbeit im Zentrum für Neuropädiatrie in Vogtareuth war dann ebenfalls ein Meilenstein: Damals fing er an, sich für die Behandlung von neurologischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen zu begeistern. Das ist deshalb wichtig, weil der 55-Jährige vor einigen Jahren, „in der Mitte meines Berufslebens“, beschlossen hat, noch einmal etwas Neues anzufangen. Seither bereitet er den Wechsel vor. Im kommenden Jahr nun ist es so weit: Er wird in die Klinik zurückgehen und mit dem Schwerpunkt Epileptologie arbeiten.


Schlechte Nachricht


Das bedeutet für den Altkreis Crailsheim, dass seine Praxis in Gersbach bei Satteldorf-Ellrichshausen ab 1. Januar verwaist ist, wenn sich nicht doch noch in letzter Minute eine Nachfolge-Regelung ergibt. Seit 2002 arbeitet Dr. Vogler dort – während der ersten drei Jahre an der Seite von Hans-Jörg Dobler, dann hat er die Praxis ganz übernommen. Wie sehr ihn die kleinen Patientinnen und Patienten schätzen, zeigt sich an mit Kinderzeichnungen beklebten Praxiswänden; auch er selbst spricht von großer Verbundenheit und davon, wie sehr er sich einen Nachfolger, eine Nachfolgerin wünscht.


Kinderarzt-Alltag


Viele Kolleginnen und Kollegen Voglers, die die vertragsärztliche Versorgung gegen die Kliniktätigkeit eintauschen, führen als Begründung den immer zeit- und arbeitsaufwendigeren administrativen Teil ihrer Arbeit etwa im Bereich der Abrechnung oder der Heilmittelverordnung an. „Jeder Kollege nimmt das anders wahr“, so Vogler: Für ihn und seinen Entschluss, wieder in einer Klinik zu arbeiten, habe das keine Rolle gespielt, ebenso wenig die aktuelle Belastung während der Corona-Pandemie – immerhin sucht er bereits seit Jahren nach einem Nachfolger.


Entschärfung


Das Krisenjahr 2020 hat auch für ihn Veränderungen gebracht. So führt er zusätzlich Corona-Abstriche durch – an kleinen Patienten, die die Praxis am Ende der Sprechstunden durch einen zweiten Eingang betreten. Das Ganze bedeute „erheblichen zusätzlichen logistischen und zeitlichen Aufwand“, unter anderem durch die notwendige Vollschutzmontur. Sein größtes Problem aber ist nun nicht mehr ganz so drängend: Seit geraumer Zeit sei es kaum möglich, die Vorsorgeuntersuchungen zeitnah unterzubringen. Die Wartezeit vormittags betrug zuletzt sieben Wochen, nachmittags gar zwölf Wochen. Dank Corona wurden die bis dato zwingend vorgeschriebenen Fristen für diese Untersuchungen vorübergehend aufgehoben: Auch spätere Termine werden anerkannt und vergütet; das ist im chronischen Versorgungsengpass eine höchst willkommene Entschärfung. Denn all die anderen Gründe, ihn aufzusuchen, gibt’s ja auch noch: Blinddarm-, Lungen- und Hirnhautentzündung, Grippe und Schulunfälle.


Grundsatz-Problem


Wie es mit der Vorsorge und mit der Versorgung kranker Kinder im Crailsheimer Raum weitergeht, wenn er auch noch wegfällt, weiß Vogler nicht. Nur dass es grundsätzlich ein Problem gibt. „Über 50 Prozent meiner Kolleginnen und Kollegen sind 50 Jahre und älter“, sagt er; sie alle gehen in absehbarer Zeit in den Ruhestand, ohne dass sich ansatzweise abzeichnet, wie es dann weitergehen soll.


Wie im Bereich der Allgemeinmedizin könnte die Anstellung von Weiterbildungsassistenten helfen – fortgeschrittene Studierende, die als Teil ihrer Ausbildung in Weiterbildungsverbünden erstmals einen Eindruck von der Arbeit in Praxen im ländlichen Raum erhalten. Das könnte dann mit Schlüsselerlebnissen verbunden sein, vergleichbar dem, was der Bub Lukas einst erlebt hat. „Bei aller Belastung: 
Eine solche Praxis zu leiten, ist spannend, und es macht Freude“, sagt Vogler. Auch Studienanreize sind im Gespräch, etwa die Übernahme von Studienkosten gegen die Verpflichtung, sich zeitlich befristet in einer der unterversorgten Regionen als „Land“-Kinderarzt niederzulassen. Wahrscheinlicher aber ist der Trend hin zu Medizinischen Versorgungszentren, die immer mehr Kassenarztsitze aufkaufen und die es erleichtern, Beruf und Familie zu vereinbaren. Lukas Vogler, selbst Vater von drei Söhnen, meint mit Blick auf die Kolleginnen mit Kinderwunsch, selbstständig einen Praxisbetrieb und die Familie zu stemmen, sei kaum zu schaffen.


Viele Fehlversuche


Die derzeitige Unterversorgung besteht seit Jahren, so Lukas Vogler. Bereits 2018 habe man in einem Schreiben an die Kassenärztliche Vereinigung auf die mangelhafte Versorgungssituation hingewiesen: Unter anderem für Neugeborene gebe es nicht ausreichend Behandlungsangebote. Er selbst hat es seit 2018 über die KV-Börse versucht und über einschlägige Praxis-, Landarzt- und Pädiatrie-Portale. Er habe seine Praxis mal „mit Elan, Esprit und Freude“ angeboten, dann wieder nüchtern und professionell. Hat alles nichts geholfen. Er hofft sehr, dass er jetzt, ganz zum Schluss, doch noch jemanden findet. Wirklich optimistisch ist er aber nicht: Der Mietvertrag für die Praxisräume in Gersbach ist bereits gekündigt.


Wohin mit den kleinen Patienten?


Folgende Kinder- und Jugendarztpraxen gibt es im Umkreis: In Crailsheim Dr. Stefan Heßler, der nun doch noch einige Zeit praktiziert und ab 9. November in der Blaufeldener Straße zu finden ist, außerdem Christine Morasch und seit Kurzem mit einer halben Stelle im MVZ in Crailsheim Aleksander Karol Matyl. Im Kirchberger Praxicum behandeln Dr. Beate Kern, Fachärztin Nina Masserer-Gärtner und mit dem Schwerpunkt Neuropädiatrie Dr. Sophia Rügner. Dr. Tobias Reinhardt praktiziert in Feuchtwangen, Dr. Hans-Werner Knüppel in Rothenburg und Martin Gerlich in Dinkelsbühl. Alle diese Praxen sind gut ausgelastet, zum Teil an der Grenze ihrer Aufnahmekapazität angelangt. bt

HOHENLOHER TAGBLATT / 28.10.2020 

Bild: Dr. Lukas Vogler verlässt den Altkreis. Foto: Birgit Trinkle.

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